Es ist vermutlich das erste Mal, dass ich als Introvertierte einen Vorteil gegenüber Extrovertierten habe. In keiner Weise möchte ich die Einschränkungen, Herausforderungen und Verluste, die durch das Corona-Virus entstanden sind, ignorieren oder herunterspielen. Aber die vergangenen Wochen hatten für mich auch viel Gutes – und haben mich in mancherlei Hinsicht zum Nachdenken gebracht.
Die unfreiwillige Entschleunigung der Krisenzeit war für mich als Introvertierte eine reine Wohltat. Plötzlich war der Kalender – bis auf die wöchentlichen Müllabfuhrtermine – leergefegt. Kein Stress, kein Organisieren, keine Absprachen darüber, wen man wann und wo trifft. Reduktion aufs Wesentliche sozusagen. Vermutlich bin ich nicht die Einzige, die in dieser Zeit immer wieder feststellen durfte, was ich alles nicht brauche – und wofür ich auf der anderen Seite besonders dankbar bin.
Nach etwa zwei Wochen Corona-Auszeit fiel mir vor allem Eines auf: Unser vierjähriger Sohn war plötzlich vergnügt und – bis auf die dem Alter entsprechenden Autonomiebestrebungen – tiefenentspannt und ausgeglichen wie schon lange nicht mehr. Er blühte – passend zum Frühling – regelrecht auf. Schon sehr lange hatte ich ihn nicht mehr so kooperativ und seiner jüngeren Schwester gegenüber so liebevoll erlebt. Und plötzlich war sie wieder da – die Frage, die mich das ganze letzte Jahr begleitet hatte: Warum schicke ich ihn eigentlich in den Kindergarten? Warum gebe ich mein Kind in Fremdbetreuung, wenn es ihm zu Hause sichtlich besser geht?
Diese Frage wurde mit jeder Kindergarten-freien Woche drängender. Wenn ich andere Familien nach ihrem Ergehen in dieser – mit Kleinkindern zugegeben auch herausfordernden – Zeit fragte, fiel die Antwort recht unisono aus: Die Mütter hatten ihre Mühe die Zwerge in diesem eingeschränkten Rahmen zu beschäftigen. Den Kindern jedoch ging es gut! Selbstverständlich ist dies keine repräsentative Umfrage und eine zugespitzte Sichtweise. Auch Kinder vermissen spätestens nach ein paar Wochen ihre Freunde – genau wie wir Erwachsenen. Trotzdem zeigt mir diese Ausnahmesituation etwas, was mir meine Intuition im vergangenen Jahr immer wieder zugeflüstert hat: Manche Kinder – vielleicht mehr als wir denken! – wären zu Hause besser aufgehoben. Manche Kinder brauchen die mütterliche Nähe auch nach ihrem dritten Geburtstag noch sehr stark. Manche Kinder sind in den überfüllten Kindergartenräumen mit ihren zig Reizen heillos überfordert. Sie finden dort nicht die Ruhe, die sie bräuchten und die Überreizung endet in Aggression. Für manche Kinder kommt der Eintritt in die Welt da draußen, in „das System“, zu früh – ihnen hätte etwas mehr Zeit im geschützten Rahmen der Familie sehr gut getan. Unser Sohn gehört zu diesen Kindern. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass er kein Einzelfall ist.
Nun mag der ein oder andere sagen, dass nicht alle Familien so privilegiert sind ihre Kinder ausschließlich selbst betreuen zu können. Das stimmt. Ich habe Hochachtung vor Alleinerziehenden und Familien, die zwingend zwei Einkommen brauchen. Und ich empfinde es durchaus als großes Privileg wortwörtlich rund um die Uhr für meine Kinder da sein zu dürfen. Aber es ist auch Verzicht! Die Konsequenz unserer bewusst gelebten Familienwerte bedeutet eben auch, dass wir auf bestimmte Dinge – etwa teure Urlaube – verzichten. Und ich als Mutter verzichte auf finanzielle Einkünfte und auf ganz viel Freiheit – weil es mir das wert ist. Die Kinder sind mir anvertraut worden und ich habe nur ein kleines Zeitfenster, um sie nachhaltig zu prägen und auf ihr Leben vorzubereiten. Auch diese Tätigkeit ist systemrelevant – viel mehr als wir denken. Aber sie erfordert Mut und die Bereitschaft die eigenen Bedürfnisse für eine Zeit hintenanzustellen. Und das ist wahrlich nicht leicht! Unseren Sohn haben wir inzwischen vom Kindergarten abgemeldet. Seine Reaktion: eine herzliche Umarmung und dankbare Augen.
Passend dazu kannst du dir jetzt auch den Entscheidungsprozess dahinter anhören: